Fantaghirò wohlgestalt

(nach „Fantaghirò Persona Bella“ von Gherardo Nerucci aus dem Jahre 1880)

 

 

Es war einmal ein König, der keine Söhne, dafür aber drei schöne Töchter hatte. Die älteste hieß Carolina, die mittlere Assuntina, die jüngste aber Fantaghirò wohlgestalt, denn sie war das schönste Mädchen im ganzen Königreich.

Der König litt an einer unheilbaren Krankheit, weshalb er sich alle Tage in seine Kammer zurückzog und am Hofe keinerlei Anteil nahm. In seiner Kammer bewahrte er drei Stühle auf: einen himmelblauen, einen schwarzen und einen roten. Wenn seine Töchter ihn des Morgens besuchten, huschte ihr erster Blick stets nach dem Stuhle, in welchem der Vater saß. Saß er im himmelblauen, so bedeutete das Glück, saß er im schwarzen, so bedeutete das Tod, saß er aber im roten Stuhle, so bedeutete das Krieg.

Als die drei Töchter eines Morgens seine Kammer betraten, sahen sie ihn im roten Stuhle sitzen und erschraken. Und die Älteste frug: „Lieber Vater, was ist geschehen?“

„Ach,“ sprach der König und hielt mit zitternder Hand einen Brief hoch, „ich habe eine Kriegserklärung von dem König des Nachbarreiches erhalten. Und nun weiß ich nicht, was ich machen und an wen ich mich wenden soll. Krank wie ich bin, kann ich unsere Armee nicht führen. Ich bräuchte einen guten General – aber wo soll ich auf die Schnelle einen herbekommen?“

Da sprach Carolina: „Lieber Vater, seien Sie gütig und lassen Sie mich der General sein. Sie werden sehen, dass ich imstande bin, unsere Soldaten zu befehligen.“

Der König aber verzog das Gesicht: „Solcherlei Angelegenheiten sind nichts für Frauen.“

„So stellen Sie mich denn auf die Probe“, erwiderte sie. „Lassen Sie mich, bevor wir kämpfen, den König des Nachbarreiches aufsuchen und sehen, ob sich ein Krieg nicht doch noch vermeiden lässt.“

„Ich will dir deine Bitte gewähren“, seufzte der König nach langem Grübeln. „Solltest du dich jenseits unseres Schlosses jedoch allzu weibisch betragen und über Frauenthemen sprechen, so hast du auf dem Absatz kehrtzumachen und zurückzukommen.“

Sowie er alleine war, läutete er nach seinem Diener Tonino und befahl ihm, die Prinzessin ins Feindesland zu begleiten. „Sollte sie wider unsere Abmachung handeln und sich weibisch betragen,“ beschloss er seinen Befehl, „so wirst du sie umgehend zu mir zurückbringen.“

Tags darauf brachen die Prinzessin und des Königs treuer Diener auf. Nachdem sie einige Zeit geritten waren, erreichten sie einen See mit einem weiten, herrlich anzuschauenden Schilfgürtel.

Sprach die Prinzessin: „Sieh nur dies herrliche Schilf! Wenn wir das zu Hause hätten – wie viele schöne Spinnrocken könnten wir wohl daraus machen!“

Sprach Tonino: „Zurück, zurück! Frauenthemen sprangen von deinen Lippen!“

So kehrten sie und die gesamte Armee ins heimatliche Schloss zurück.

Da trat Assuntina vor ihren Vater und bat darum, den König des Nachbarlandes aufsuchen und die Armee als General führen zu dürfen. Der König gewährte ihr die Bitte unter der besagten Voraussetzung.

Tatsächlich passierten die Prinzessin und Tonino den Schilfgürtel, ohne dass sie etwas sprach. Schließlich kamen sie in einen Wald mit hohen, außerordentlich schön gewachsenen Baumstämmen.

Sprach die Prinzessin: „Sieh nur diese herrlichen Stämme! Wenn wir die zu Hause hätten, wie viele schöne Spindeln könnten wir wohl daraus machen!“

Sprach Tonino: „Zurück, zurück! Frauenthemen sprangen von deinen Lippen!“

Als der König nun auch seine zweite Tochter unverrichteter Dinge samt seiner Armee heimkehren sah, wollte er bereits verzweifeln – plötzlich aber stand Fantaghirò vor ihm und bat ihn, sie ebenso auf die Probe zu stellen wie ihre beiden Schwestern.

„Du bist noch so mädchenhaft“, sprach der König. „Haben es schon deine älteren Schwestern nicht vermocht, wie ein Mann aufzutreten, wie soll es dann erst dir gelingen?“

„Und doch kann es nichts schaden, wenn ich es probiere“, erwiderte Fantaghirò. „Ich verspreche Ihnen, keine Schande über unser Reich zu bringen.“

Der König gab schließlich nach und schwor Tonino einmal mehr darauf ein, seine Tochter im Falle des Scheiterns nach Hause zu geleiten. Indes kleidete sich Fantaghirò wie ein Krieger mit Schwert und Pistolen – ein ebenso lieblicher wie unerschrockener Dragoner. Sie bestieg ihr Pferd und zog mitsamt dem Diener und der Armee des Königs los. Sie passierten Schilfgürtel und Wald und erreichten die Landesgrenze, ohne dass das Mädchen auch nur ein einziges Wort gesprochen hätte. Ohne Scheu trat Fantaghirò dem feindlichen König, einem gutaussehenden jungen Mann, entgegen.

Als der König Fantaghirò erblickte, dachte er bei sich: Ist dieser forsche General nicht gar ein Mädchen? Und einer jähen Sehnsucht folgend lud er sie unter dem Vorwand, die Gründe der Kriegserklärung zu erörtern, in seinen Palast ein.

„Mamma mia!“, stieß er aus, sowie er seiner Mutter von dem General, der das Feindesheer befehligte, und seinen wunderlichen Gefühlen ihm gegenüber erzählt hatte.

 

„Fantaghirò wohlgestalt,

welch schwarze Blicke, welche Sprachgewalt!

Doch dieser schroffe Fels – ich schwör’s – birgt einen Spalt!“

 

Die Mutter hatte ihrem Sohn mit kuriosen Gesichtern gelauscht. „So führe den General in den Lustgarten“, sprach sie nach einer Weile des Grübelns. „Verhält es sich so, wie du sagst, so wird er ein Veilchen in die Hand nehmen oder an den Busen stecken. Ist es aber ein Mann, so wird er sich nicht im Geringsten um die Blumen scheren.“

Der König gehorchte prompt, führte den fremden General in den Lustgarten und beobachtete ihn. Fantaghirò aber würdigte die Veilchen keines Blickes, pflückte sie nicht und steckte sie durchaus nicht an den Busen.

„Der General hat sich ganz wie ein Mann gebärdet“, rief der König, sowie er die Kammer seiner Mutter aufgesucht hatte. „Und doch lässt mich der Gedanke nicht los:

 

Fantaghirò wohlgestalt,

welch schwarze Blicke, welche Sprachgewalt!

Doch dieser schroffe Fels – ich schwör’s – birgt einen Spalt!“

 

Die Mutter sah, dass ihr Sohn vor Liebe vollends verblödet war, und sprach: „So führe den General in die Waffenkammer. Verhält es sich so, wie du sagst, so wird er sich nichts aus den Waffen machen, noch weniger sie anfassen.“

Der König gehorchte, führte den fremden General in die Waffenkammer und beobachtete ihn. Fantaghirò aber griff nach den Schwertern und probierte sie aus. Auch die Pistolen und Flinten lud und erprobte sie mit glänzenden Augen, ebenso, wie es ein Mann getan hätte.

„Der General hat sich ganz wie ein Mann gebärdet“, erklärte der verzweifelte König seiner Mutter. „Und doch lässt mich der Gedanke nicht los:

 

Fantaghirò wohlgestalt,

welch schwarze Blicke, welche Sprachgewalt!

Doch dieser schroffe Fels – ich schwör’s – birgt einen Spalt!“

 

Sprach die Mutter: „Mein Sohn, bevor du gänzlich den Verstand verlierst, lass uns den General ein letztes Mal auf die Probe stellen. Lade ihn ein, diese Nacht das Bett mir dir zu teilen. Ist er eine Frau, so wird er ablehnen.“

Der König gehorchte, trat vor den fremden General und sprach: „Spät ist es geworden. Ich würde mich geehrt fühlen, mein Bett mit Euch teilen zu dürfen.“

„Seine Majestät sind sehr gütig“, erwiderte Fantaghirò darauf. „Gerne nehme ich Euer Angebot an und teile das Bett mit Euch.“

Bevor sie schlafen gingen, aßen sie miteinander zu Abend. Der König ließ einige Flaschen seines besten Weines servieren – der Flasche aber, die für den geheimnisvollen General bestimmt war, hatte er Opium beimischen lassen. Doch statt zu trinken, erhob Fantaghirò die Flasche, gab dem König einen brüderlichen Kuss, umarmte ihn und tauschte dabei unbemerkt die Flaschen aus.

„Sauf aus, Kamerad!“, grölte sie. „Oder ich bringe dich um!“

„Bring mich nicht um, Kamerad!“, lachte der König. „Ich werde aussaufen!“

Und er soff, ohne es zu merken, die Flasche mit dem Opium leer. Im Schlafgemache angekommen, fiel er der Länge nach ins Bett und schnarchte alsbald wie ein Tier. Als er am andern Morgen erwachte, sah er Fantaghirò wie zuvor als Dragoner gekleidet vor sich stehen und konnte noch immer nicht erkennen, ob sie ein Mann oder eine Frau war.

Das war zu viel für ihn! In die Arme seiner Mutter stürzend, schrie er in verzweifelter Leidenschaft auf und seine vom Wahnsinn verzerrten Lippen formten immerfort die Worte:

 

„Fantaghirò wohlgestalt,

welch schwarze Blicke, welche Sprachgewalt!

Doch dieser schroffe Fels – ich schwör’s – birgt einen Spalt!“

 

Sprach die Mutter: „Verlass mich, Verrückter! Dreimal hast du den General auf die Probe gestellt und dreimal hat er sich als Mann erwiesen! Der Teufel scheint dir das Licht des Verstandes geraubt zu haben!“

Der arme König wusste nicht aus noch ein. Er küsste die Hände seiner Mutter und flehte sie an, ihm doch noch ein letztes Mal mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Die ließ sich aus Sorge, ihr Sohn könnte sich im Wahn etwas antun, schließlich erweichen und gab ihm folgenden Rat: „So lade denn den General ein, mit dir ein Bad ohne Kleider im Fischteich zu nehmen. Verhält es sich so, wie du sagst, so muss er ablehnen – und du wirst endlich von allem Zweifels befreit sein.“

Mit klopfendem Herzen trat der König vor Fantaghirò und lud sie zum Mittagsbad im Fischteich ein.

„Gerne würde ich Eurer Einladung folgen“, erwiderte sie. „Doch in meinem Lande ist es üblich, am Morgen zu baden, und dafür ist es schon zu spät. Lasst uns das gemeinsame Bad darum auf den nächsten Tag verschieben.“

Sowie der König halb zuversichtlich, halb misstrauisch fortgegangen war, rief die Prinzessin nach Tonino und trug ihm auf, nach Hause zu reiten und den schnellsten Dragoner im Reich mit der Nachricht, ihr Vater läge im Sterben, zurückzuschicken.  

Am nächsten Morgen wartete der König umringt von duftenden Pfirsichbäumen unweit des Fischteiches. Als er Fantaghirò kommen sah, begann er, sich zu entkleiden, und bedeutete der Prinzessin, es ihm gleichzutun.

„Mir ist so schlecht,“ erwiderte Fantaghirò, „ich habe Krämpfe in meinen Schultern und Beinen. Wenn das keine schlimme Vorahnung ist!“

„Ach was!“, rief der König voller Ungeduld. „Wer könnte an solch herrlichem Tage schon schlimme Vorahnungen haben? Seid unbesorgt, zieht Euch aus und steigt mit mir ins Wasser.“

In diesem Moment jedoch war das Getrappel von Hufen zu hören und Fantaghirò stöhnte:

 

„Ein Pferd, ein Pferd, in vollem Lauf!

Ein Dragoner sitzt darauf,

er kommt hierher, er sucht mich auf.“

 

Der Dragoner riss die Zügel hoch, dass der Staub im Lustgarten aufwirbelte, und überreichte der Prinzessin einen Brief. Die Zeilen mit schwarzen Augen überfliegend, mimte sie die Trauernde, trat vor den halb entkleideten König und sprach: „Euer Majestät, es tut mir leid, aber meine düsteren Vorahnungen haben sich bewahrheitet. Mein Vater liegt im Sterben und wünscht, mich vor seinem Tode noch ein letztes Mal zu sehen. Ihr werdet verstehen, dass ich umgehend losreiten muss. Doch lasst uns, bevor ich mich verabschiede, Frieden schließen und ich verspreche, Euch nächstens in unserem Reiche zu empfangen und das gemeinsame Bad nachzuholen.“

Die Verzweiflung des Königs war übergroß. Er versuchte, den General, den er auf solch wundersame Weise liebte, zum Bleiben zu überreden, musste sich letztlich aber dem Schicksal fügen.

Bevor Fantaghirò abreiste, betrat sie ein letztes Mal ihre Kammer und hinterließ einen Zettel auf dem Schemel unweit des hohen Wandspiegels. Darauf stand:

 

„Prinzessin Fantaghirò kommt und geht,

doch ratlos bleibt zurück die Majestät.“

 

Als der König am Abend mehr tot denn lebend die Kammer betrat, um seinem fernen Sehnsuchtsbild so nahe wie möglich zu sein, fand er den Zettel. Seine Augen lasen die Worte, dann entfuhr seinen Lippen ein Aufschrei der Erleichterung. Einmal mehr stürzte er seiner Mutter in die Arme.

„Mamma mia!“, stieß er aus. „Hatte ich es nicht gesagt? Fantaghirò ist ein Mädchen! Hier, hier, lesen Sie!“

Aber er wartete nicht auf die Antwort seiner Mutter, sondern preschte, sowie er seine Kutsche bestiegen hatte, dem Mädchen seiner Träume nach. So raste er dahin, die ganze Nacht hindurch und als er das Nachbarland und schließlich den Palast erreichte, schwitzte und zitterte er. Er bat, beim König vorzusprechen, und fand ihn mit roten Backen auf dem himmelblauen Stuhle sitzend.

„Wo ist Fantaghirò?“, erkundigte sich der junge König, nachdem sich die beiden ewigen Frieden geschworen hatten.

„Ich verlasse meine Kammer nie“, erwiderte der alte König. „Gerne aber gestatte ich Euch, sie im Palaste zu suchen.“

 

Eben hatte sich die schöne Prinzessin vollends entkleidet, um sich nach all den Mühen als General einerseits und den ausgelassenen Feierlichkeiten des Vorabends andererseits, im kühlen Wasser des Teiches zu erfrischen.

„Fantaghirò?“, stieß der junge König aus und die Augen gingen ihm über, sowie er den strahlenden Leib des Mädchens erblickte. Er konnte nicht glauben, dass es ebendiese menschgewordene Fee gewesen sein sollte, die gestern noch so überzeugend einen General gespielt hatte. „Seid das wirklich Ihr?“

Erschrocken hielt Fantaghirò, deren Brüste vom Schwarz ihrer Haare bedeckt wurden, die Hände vor ihre Scham.

„Nein, Ihr seid es nicht“, sprach drauf der König. „Die Fantaghirò, die ich kenne, würde die Blume ihres Leibes nicht beachten, noch weniger berühren.“

Die Prinzessin durchbohrte ihn mit einem Blick, schwarz und glänzend wie flüssiges Pech – und ließ die Hände sinken. Der König entkleidete sich und stieg zu seiner Liebsten in den Teich.

„Nein, Ihr seid es nicht“, fuhr er fort. „Die Fantaghirò, die ich kenne, würde eine Waffe, die man ihr vorführt, mit den Händen berühren und ausprobieren.“

Fantaghirò lachte auf und strich über die Waffe, die der König ihr entgegenstreckte. Als der Verliebte sie aber in das duftende Moos unweit des Teiches betten wollte, zierte sie sich.   

„Nein, Ihr seid es nicht“, fuhr der König fort. „Die Fantaghirò, die ich kenne, würde die Bitte, mit ihr das Bett zu teilen, niemals ausschlagen.“

Das nahm sie sich zu Herzen. Fest umschlungen tauschten die Verliebten ihre Zärtlichkeiten, bis es Abend war und das Gestirn über dem Lustgarten die Augen aufschlug. Und kam Carolina des Wegs und rief nach ihrer Schwester, so verbargen sich die beiden im Schilfe auf der Ostseite des Teiches, kam aber Assuntina, so verbargen sie sich hinter den Bäumen auf der Westseite.

Bald darauf wurde Hochzeit gefeiert und die beiden verfeindeten Königreiche verschmolzen zu einem geeinten Reiche der Liebe und des Friedens.