Nach einem heftigen Streit mit ihrem Onkel ist die zehnjährige Sappho noch auf ihrer Heimatinsel Lesbos ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen erwacht sie in Syrakus – als Ehefrau und Mutter eines kleinen Mädchens.
Wie konnte das passieren? Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Was wissen die Menschen in ihrem Umfeld, was sie nicht weiß? Und wie ist die blinde Wut der fremden Braut zu erklären, an deren Hochzeit sie zufällig teilnimmt?
Dritter Teil der ALTERA-ALA-ANIMAE-Ennealogie.
Die Agora wird nun durchtanzt, der Oikos des Gatten
ist in der Ferne zu sehen – die bunten Tücher, mit denen
er geschmückt ist, wehen im Wind. Je näher wir kommen,
desto mehr verwundert mich das Ziel dieses Zuges.
Eigentlich habe ich keine Lust gehabt, mit den Damen
um mich herum zu sprechen – noch hat mich keine von ihnen
als Skamandros’ Tochter erkannt und ich will ihnen keine
Gründe für meinen Fortgang nennen müssen, der mir ja
selbst ein Rätsel ist. Doch die in phönizischen Purpur
eingehüllte Braut fasziniert mich, auch wenn ich sie bisher
nur von hinten gesehen habe – die Art ihrer Haltung
und Bewegungen zeugt von großer Selbstsicherheit und
edler Abkunft. „Ist das Haus da vorn denn kein Gasthaus?“,
frage ich die gebleichte Lästerzunge. „Sie wird doch
nicht den vulgären Sohn des Wirts geheiratet haben?“
„Keineswegs“, erwidert sie. „Das Gasthaus ist nur ihr
sinnbildhafter neuer Oikos. Der Bräutigam stammt aus
Kypros – morgen werden sie abreisen.“ Wir folgen dem Brautpaar
in das Gasthaus hinein, das Volk bleibt weitgehend draußen –
nur ein paar wenige vorwitzige Jungen stehlen sich mit ins
Haus, um etwas Hochzeitskuchen und Wein zu erhaschen.
Alle Zimmerecken sind mit Decken und lieblich
duftenden Blumen geschmückt, die Hausherrn bestreuen die Braut zum
Gaudium aller mit Nüssen und getrockneten Feigen,
stellvertretend für die fernen Bräutigamseltern.
Brote werden geopfert, die verbliebenen Früchte
an die Familie der Braut verteilt. Die Gesänge verstummen.
Nun soll der wichtigste Ritus vor der Hochzeitsnacht folgen:
Das Umschreiten des künftigen Herdes – schon wieder symbolisch.
Wir eröffnen den frohen Gang mit der Hestia-Andacht,
tief und rhythmisch wie das Herdfeuer selbst – die Gemahlin
setzt sich zum Takt der Worte in Bewegung, streut jeden
vierten Schritt eine Handvoll Späne ins Feuer und dreht ihr
Antlitz, am Ende des Herdes angekommen, zum ersten
Mal uns gespannten Beobachtern zu. Bei Kypris und allen
Göttern des Olymp! wie wunderschön ihre Züge,
wie erhaben die Nase, wie eigensinnig der Mund ist!
Ich erblicke sie im Geist, von Meerschaum umhüllt im
Schatten des Aphroditefelsen. Erstmals seit Glaukos’
unausgesprochenen Drohungen fühle ich Glück in mir pochen.
Leider verwehrt sie mir ihren Blick, der, während sie vorwärts
geht, von ihren Schritten gebannt wird. Zwei Armlängen vor mir
blickt sie zum ersten Mal auf. Ihre Augen sind blau wie Lagunen-
wasser auf weißem Sand. Wie wird mir?! Der Herzschlag versagt mir!
„Psappho?“, entfährt es der Braut. Ich kenne sie und entgegne:
„Ja, ich bin’s.“ Ein Aufschrei, ein Schlag auf die Wange, ein Schwanken,
allgemeine Verwirrung. Ich stürze – die Wirtsleute haben
Theokleia an den Oberarmen gefasst, die
schier von Sinnen auf mich einschlägt. Endlich gelingt es
ihnen, die Rasende von mir loszureißen – ich springe
auf, das Entsetzen dreht mir den Magen um. Ich erbreche
eine trübgraue Flüssigkeit – und entfliehe der Hochzeit.