Beschreibung

Milena Dvořák, die Mutter der Ballerina, klappte das Tagebuch zu. Kaum traute sie sich, den Blick zu heben und dem Autor in die Augen zu sehen. Dann tat sie es doch.

Die Adern waren geplatzt, der Blick wies stumm auf das zusammengeheftete Manuskript, das im Tagebuch gesteckt hatte. Frau Dvořák kannte das Stück. Gleichwohl griff sie danach und begann zu lesen.

 


Erhältlich als



Leseprobe:

„Wenn ich das meinen Freunden erzähle“, meinte ihre Mutter beim Diner. Eingeladen! Sie! Ins Haus des Bestsellerautors! Blablabla.

Lange hatte ich nach der Vorstellung vor der Tür auf die Ballerina gewartet und dabei selbst traumversunken einen Walzer getanzt. Aber es war mir nur ihre Mutter begegnet. Ich gab mich zu erkennen, lud sie ein, mit ihrer Tochter spontan zu mir zu kommen, bemühte ein Catering etc. etc.

Helena saß neben ihrer Mutter und teilte deren Euphorie allenfalls heimlich.

„Ausgerechnet bei Ihnen, der nichts über sein Privatleben preisgibt, keine Preise annimmt …“

Sie ist eine von den Menschen, für die gemeinsames Schweigen unerträglich ist, und sei es auch nur für Sekunden. Oder sie hat Angst, mich zu langweilen, Angst, ich könnte bereuen, sie eingeladen zu haben. Die gesamte Herfahrt hat sie mich zugetextet.

Wenn ich auch nur eine Sekunde zugehört hätte, würde ich jetzt mehr über sie wissen als über meine Exfrau. Doch ihre Tochter im Rückspiegel hatte all meine Sinne vereinnahmt.

„Ich möchte so vieles über Sie wissen“, schnattert sie. „Aber ich weiß gar nicht, ob es Ihnen recht ist, ausgefragt zu werden.“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Bis jetzt weiß ich bloß, dass Sie Mineralien sammeln. Und spontan Damen in Ihr Haus einladen.“

Sie überschaut den Tisch, rührt in den italienischen Speisen nach einer Frage.

„Gemüse oder Fleisch?“

„Ist das diese neumodische Fragetechnik, die niemals funktioniert,“ erwidere ich, „weil die Befragten immer mit einer originellen dritten Möglichkeit antworten?“

„Dann funktioniert sie doch“, kichert sie. „Also: Gemüse oder Fleisch?“

Ich feixe durch die Nase. „Fleisch.“

„Fleisch oder Fisch?“

„Fleisch.“

Ihr Blick streift das Gesicht und die entblößten Schultern ihrer Tochter. „Aussehen oder Charakter?“

Ich folge ihrem Blick. „Fleisch.“

„Ich glaube, Sie fahren ganz gut damit, keine Interviews zu geben.“

„Fast keine“, korrigiere ich. „Ein Interview gibt es von mir.“

„Tatsächlich?“

„In der alten Kollegstufenzeitung. Ich wurde zu einer verstörenden Horrorgeschichte, die ich als Zwölftklässler geschrieben habe, befragt.“

Helenas Mutter wischt sich zum zwanzigsten Mal mit der Serviette über den Mund. Sie glaubt, vor mir möglichst gesittet essen zu müssen. Nach dem Heidelbeer-Panna-Cotta wird sie ins Bad verschwinden und nachsehen, ob ihr nichts zwischen den Zähnen hängt.

Wenn sie wüsste, wie und was ich gewöhnlich esse, würde sie vom Glauben abfallen.

„Es existiert eine Horrorgeschichte von Ihnen?“

Sie öffnet den Mund, überlegt, ob sie sich traut. Doch sie ist ausgelassen genug dafür.

„Darf ich sie lesen?“ 

„Auf keinen Fall“, sage ich. „Es hat mich Jahre gekostet, diese unsägliche Geschichte vom Erdball zu tilgen. Jedes Klassentreffen habe ich dazu genutzt herauszufinden, wer noch ein Exemplar besitzt. Nur einer hat sich geweigert, es mir zurückzugeben. Ein Erstlingswerk wie dieses, meinte er, könnte richtig wertvoll sein.“

Ich wechsle einen Blick mit der schönen Ballerina. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln ihrer Lippen und Augen spornt mich an.

„Da musste ich ihn leider töten.“

„Oh Gott!“ Die Mutter bricht in helles Gelächter aus. „Und? Wie haben Sie ihn getötet?“

Mit schneidendem Ton ziehe ich mein Vitello tonnato mit den Zähnen von der Gabel. „Wissen Sie, ich bin da in einem künstlerischen Korsett gefangen. Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass ich ihn nicht einfach mit einem Knüppel oder einem Chloroform-Taschentuch ins Jenseits befördern konnte – das heißt doch Chloroform, oder?“

„Schon, aber das braucht man nur, um jemanden zu betäuben.“

„Ich bin, wie Sie beide wissen, Perfektionist, allem voran in der Kunst. Und was wäre ein größeres Kunstwerk als ein Mord? Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn man mich erwischen und vor den Richter stellen würde? Der große Bornschlegel und solch ein hingeschludertes, völlig liebloses 08/15-Machwerk? Was würden die Leute von mir denken?“

„Der Mord selber dürfte zumindestens Ihre Leser nicht schockieren“, gluckst Helenas Mutter. Himmel! Angst huscht über ihren Blick. Ist sie zu weit gegangen?

Doch ich lache und ihre Miene entspannt sich.

 

Ein bemerkenswerter Satz.

Zumal in keinem meiner Bücher, soweit ich mich erinnere, Mordfantasien geschildert werden. Ich würde ihren Satz als Zitat über meinen Schreibtisch hängen, wenn er nicht das Deppenwort „zumindestens“ enthalten würde.

 

„Ich habe hier nicht weniger als mein Meisterwerk abgeliefert. Ich habe meinen ehemaligen Mitschüler, zu Lebzeiten Friedrich geheißen, exakt dieselben Torturen durchlaufen lassen, die ich in der Geschichte genüsslich niedergeschrieben hatte. Einige der Folterverrenkungen hatte ich beim Verfassen für anatomisch unmöglich gehalten. Aber mit viel Kraft, ein wenig Geschick und einem tüchtigen Fleischklopfer waren sie durchaus möglich.“

Helena verzieht keine Miene, doch ihre Mutter hustet und prustet wie der Wolf bei den drei kleinen Schweinchen.

„Aber ich möchte Sie nicht mit Einzelheiten langweilen“, fahre ich fort. „Es bleibt festzustellen, dass es mir endlich gelang, meine schriftstellerische Jugendsünde auszumerzen und gleichzeitig in ein höheres Werk zu verwandeln.“

Mein Gegenüber wischt sich die Tränen vom Gesicht. „Erstaunlich, dass Sie niemand verdächtigt hat.“

Ich schmeiße mein Serviettenknäuel auf den Teller. „Leider, ja. Friedrich war zweifacher Familienvater und erfolgreicher Finanzberater in Zürich. Niemand aus seinem Umfeld kennt mich und das Motiv ist für die Polizei ein absolutes Rätsel. Selbst wenn sie nach seinen Klassenkameraden gefahndet hätten – wir beide hatten in der Schulzeit ja nie ein Problem miteinander gehabt, im Gegenteil. 

Die Horrorgeschichte wäre der einzige Hinweis auf meine Person gewesen und die Welt hätte mein Meisterwerk bestaunen können. So allerdings muss ich mich damit begnügen, dass jede meiner Neuerscheinungen mit diesem einen verhundsten Bestseller totverglichen wird. Und dann wundern sich alle, warum ich in keine Talkshow gehe und keine Interviews gebe.“